Viersäftelehre. Von der Antike bis ins 17. Jahrhundert prägte die Vorstellung, dass der Mensch aus vier Elementen besteht und diese im Gleichgewicht bleiben müssen, die Heilkunst – und bremste wissenschaftlichen Fortschritt.
Text: Greta Lun | Illustrationen: shutterstock.com / mountain beetle
Alles besteht aus den vier Grundelementen Luft, Wasser, Feuer und Erde – davon war man in der Antike fest überzeugt. Im menschlichen Körper würden sich diese Stoffe als Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle zeigen. Und auf die Mischung kommt es an! Sind diese Säfte in einem ausgewogenen Verhältnis vorhanden, bleiben wir gesund. Geraten sie jedoch außer Balance, gibt es also ein Zuviel von dem einen oder anderen Saft, werden wir krank.
So lässt sich die Viersäftelehre, auch Humoralpathologie genannt, zusammenfassen, eine Theorie, die auf Hippokrates von Kos (circa 460 bis circa 375 v. Chr.) und Galenos von Pergamon (circa 129 bis circa 216 n. Chr.) zurückgeht. Mit ihrer Denkweise prägten die beiden Griechen die Heilkunde bis weit ins 17. Jahrhundert. Galen hatte sich über Tiersektionen umfangreiches anatomisches Wissen erarbeitet und mehr als 400 Schriften hinterlassen. Viele seiner Entdeckungen waren für die Zeit bahnbrechend, etwa dass Muskelbewegungen vom Gehirn gesteuert werden oder welche Funktionen Nieren und Blase erfüllen. Die vier Körpersäfte übernahm er von Hippokrates, fügte jeweils charakteristische Temperamente und Organe hinzu – und verfestigte so die Idee des erforderlichen Gleichgewichts.
Erst mit der Aufklärung wurde der Zugang wissenschaftlicher und es erfolgte ein Wandel hin zur modernen Pharmazie. 1850 hielt die Zellularpathologie Einzug in die Medizinlehre, wonach Erkrankungen entstehen, wenn Körperzellen bzw. deren Funktionen gestört sind.
Flott ausleiten!
Nach der Viersäftelehre löst eine „Materia peccans“ das Leiden aus, ein „übler Saft“, der ausgeschieden werden muss, damit eine Genesung überhaupt stattfinden kann. Zu viel an Blut war für Fieber und Entzündungen verantwortlich. Schleim verursachte demnach Husten und Erkältung. Die gelbe Galle wurde mit Wut, Reizbarkeit und Verdauungsproblemen in Verbindung gebracht. Die schwarze Galle galt als Ursache für ein melancholisches Gemüt und Depressionen. Behandelt wurde in erster Linie mit ausleitenden Therapien wie Aderlässen, Einläufen, Abführ- und Brechmitteln. So dachte man, den überschüssigen Saft zu reduzieren – und den Betroffenen wieder gesund zu machen.
Der Aderlass ist eine der ältesten Behandlungsformen. Den Patient*innen wurde dabei bis zu einem Liter Blut abgenommen. Selten, aber doch erfolgte der Eingriff auch über eine Arterie, zum Beispiel an der Schläfe, um Menschen mit chronischen Kopfschmerzen zu behandeln. Heute kommt diese Therapie nur bei seltenen Bluterkrankungen oder in der Alternativmedizin zum Einsatz.
Heute gilt die Viersäftelehre als überholt. Das jahrhundertelange Festhalten an den Vorstellungen behinderte nicht nur den Fortschritt, sondern führte oft auch zu schädlichen Praktiken wie übermäßigen Blutablass und fragwürdigen Diäten, die diese Menschen weiter schwächten. Geblieben sind uns nach wie vor bestimmte Redewendungen, etwa „Gift und Galle spucken“ oder „frei von der Leber weg reden“, die von der Vorstellung kommen, dass sich der Ärger in der Leber ansammelt – und offen zu sprechen für einen Ausgleich sorgen kann.

Vier gewinnt! Nach der Viersäftelehre sind den vier Elementen (Mitte) jeweils vier Eigenschaften, Säfte, Organe und Gemüte zugeordnet. Außen vervollständigen die vier Lebensalter und die vier Jahreszeiten das Schema, was sich gut mit den Beobachtungen deckte: Im Frühjahr erhöht sich der Anteil von warmem Blut, die gelbe Galle übernimmt im Sommer, im Herbst hat die schwarze Galle die Überhand, Sitz und Ursprung der Melancholie, der kalte Schleim überwiegt im Winter, denn da niesen und schniefen wir.