Suche
Close this search box.

„Colchicin erlebt eine Renaissance“

Wiederentdeckt. Die Herbstzeitlose ist eine Giftpflanze. Der aus ihr gewonnene Arzneistoff Colchicin wird schon seit Langem zur Therapie eines akuten Gichtanfalls eingesetzt. Neue Studiendaten zeigen, dass auch Atherosklerose-Patient*innen signifikante Vorteile erwarten können, wie Prof. Dr. Manfred Schubert-Zsilavecz im Interview erklärt.

Text: Greta Lun

Colchicin ist ein Alkaloid der Herbstzeitlosen. Worum handelt es sich genau?
SCHUBERT-ZSILAVECZ: Colchicin destabilisiert die Mikrotubuli von Zellen, was deren Teilung beeinträchtigt. Die
Pflanze Colchicum autumnale wird schon auf dem Papyrus Ebers, der 3.500 Jahre alten ägyptischen Schrift zur Heilkunst, genannt. Nun hat Colchicin im Zuge von klinischen Studien einen dramatischen Bedeutungsschub erfahren, nicht zuletzt vor dem Hintergrund seiner antientzündlichen Eigenschaften, die immer besser verstanden werden.

Wie wirkt Colchicin bei der Behandlung der akuten Gicht?
SCHUBERT-ZSILAVECZ: Gemäß nationalen und internationalen Leitlinien wird Colchicin bei akuten Gichtanfällen in Dosen bis zu sechs Milligramm, also relativ hoch dosiert, verabreicht. Der Gichtanfall manifestiert sich klassischerweise nicht überall im Körper, sondern besonders im großen Zehgelenk, was extrem schmerzhaft sein kann. Es kommt lokal zu einer zu hohen Konzentration an Harnsäure, die sich im entzündeten Gelenk ablagert. Colchicin hindert neutrophile Granulozyten daran, in das entzündete Gewebe einzuwandern und die Harnsäurekristalle zu phagozytieren. Damit wird ein Circulus vitiosus unterbrochen.

Wie kann es als Gift recht hoch dosiert eingesetzt werden?
SCHUBERT-ZSILAVECZ: Alles findet in einem gesicherten Rahmen statt – sprich die Menge, die therapeutisch eingesetzt wird, ist begrenzt und es handelt sich um keine Dauermedikation. Eine zu hohe Konzentration würde jedenfalls gastrointestinale Beschwerden und eine starke Organtoxizität, unter anderem in der Leber, auslösen und wäre potenziell lebensbedrohlich.

Das neue und in den USA zugelassene Medikament Lodoco® („low-dose Colchicin“) behandelt kardiovaskuläre Erkrankungen. Was haben Herzerkrankungen mit Entzündungen zu tun?
SCHUBERT-ZSILAVECZ: Das ist genau der Punkt! Dass eine gestörte Lipidhomöostase – sprich zu hohe LDL-Cholesterinwerte – zu Atherosklerose und Folgeerkrankungen führt, ist lange bekannt. Dennoch erzeugt ein gesenkter Cholesterinspiegel nicht den maximalen Schutzeffekt, weshalb die Erforschung der Gefäßendothelzellen in den Fokus gerückt ist, insbesondere bei Menschen, auf die Fehlernährung, zu wenig Bewegung und zu hohe LDL Cholesterinspiegel zutreffen. Dabei kam heraus, dass das Gefäßendothel dieser Risikopatientinnen und -patienten chronisch entzündet ist. Und genau hier setzt Lodoco an.

Sind diese Entzündungen vergleichbar mit jenen im Gelenk bei Gicht?
SCHUBERT-ZSILAVECZ: Nein, die Entzündungsreaktionen unterscheiden sich von ihrer Entstehungsweise und der Art, wie sie am Leben erhalten werden, deutlich voneinander. Bei Gicht kann man mit NSAR gute Erfolge erzielen. Diese Zykloxygenasehemmer wirken im Gefäßendothel nicht ansatzweise so gut wie in den Gelenken.

Lodoco wurde im Sommer 2023 in den USA für den Einsatz gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen zugelassen. Was ist für Europa zu erwarten?
SCHUBERT-ZSILAVECZ: Auch bei uns wird die Zulassung nicht lange dauern. Wir sollten das Medikament unseren Patientinnen und Patienten nicht vorenthalten – die Ergebnisse der Zulassungsstudie sind geradezu spektakulär. Untersucht wurde der therapeutische Nutzen für Menschen mit hohem Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse aufgrund einer manifestierten Atherosklerose. Es gab zwei Gruppen, jeweils 2.700 Personen stark, die nach den Regeln der Kunst mit Statinen und ACE Hemmer behandelt wurden. Eine erhielt zusätzlich über Wochen und Monate pro Tag 0,5 Milligramm Colchicin, die andere ein Placebo.

Was hat man festgestellt?
SCHUBERT-ZSILAVECZ: Die Colchicin-Gruppe hatte einen signifikanten Überlebensvorteil im Vergleich zur Placebo-Gruppe. Als primäre Endpunkte waren kardiovaskulärer Tod, Myokardinfarkt, Schlaganfall oder die Notwendigkeit, eine koronare Revaskularisierung durchzuführen, sprich einen Stent zu setzen oder eine Ballondilatation durchzuführen, definiert. Die Ereignisse sprechen Bände: In der Colchicin-Gruppe gab es im Untersuchungszeitraum 187 schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse, in der Placebo-Gruppe 264. Wir sehen, dass Colchicin kardiovaskuläre Ereignisse in einem beachtlichen und statistisch signifikanten Ausmaß reduzieren kann.

Woran liegt das – was macht das Colchicin bei Atherosklerose?
SCHUBERT-ZSILAVECZ: Das Colchicin hemmt im Gefäßendothel den zentralen Faktor für das Entstehen einer nachhaltigen Entzündung: den Multi-Protein-Komplex namens Inflammasom 3. Das war eine völlig neue Erkenntnis und ein Zufallsbefund, der zukünftig zentraler Gegenstand von Arzneistoffentwicklung im Bereich der kardiovaskulären Medizin sein wird.

Menschen mit Herzerkrankungen nehmen oft eine Reihe an Medikamenten, oftmals auch aufgrund von Begleiterkrankungen wie Diabetes. Was bedeutet Lodoco als zusätzliches Präparat
für die Medikationsanalyse?
SCHUBERT-ZSILAVECZ: Das ist eine der größten Herausforderungen überhaupt! Die größte Gefahr lauert darin, dass jenes Enzym, das Colchicin im Körper abbaut, durch einen anderen Arzneistoff blockiert wird. Dann würde Colchicin nicht mehr verstoffwechselt, sich im Körper anreichern und seine toxische Wirkung entfalten. Eine Reihe von Arzneistoff en hemmen das CYP3A4-Enzym, das Colchicin abbaut. Ärztliche und pharmazeutische Fachkräfte sind also in höchstem Maße gefordert, Arzneimittel-Interaktionen genau zu überprüfen. Es gibt aber genug Substanzen im Repertoire, die keine Interaktionen verursachen. Colchicin wird jedenfalls von der wissenschaftlichen Community heiß diskutiert – das wissenschaftliche Interesse ist sehr groß. Und auch Nachfolgesubstanzen mit größerer therapeutischer Breite sind bereits in Entwicklung. 

Illustration: shutterstock.com / StudioMolekuul