NEUE METHODEN. Adipositas kann zahlreiche Erkrankungen und Beschwerden verursachen. Über die neuesten Erkenntnisse zu Prävention und Behandlung – und das große Potenzial der Medikamente – spricht Prof. Dr. Manfred Schubert-Zsilavecz im Interview.
Text: Greta Lun | Illustrationen: shutterstock.com / Paper Trident / adnanroesdi
Was bedeutet Adipositas für die Gesundheit?
SCHUBERT-ZSILAVECZ: Adipositas ist eine chronische, lebensbedrohende Erkrankung, die viel Leid auf dieser Welt verursacht – das hat auch die Weltgesundheitsorganisation festgestellt. Das Ganze hat seuchenartige Dimensionen angenommen. Wenn ich mein Klassenfoto aus dem Jahr 1967 anschaue, war von 35 Schülern einer adipös, vielleicht waren es zwei. Das hat sich dramatisch verändert. Lange wurde überlegt, wie man damit umgehen soll. Wie wir heute wissen, reicht eine Änderung des Lebensstils – mehr Bewegung, gesunde Ernährung – oft nicht. Die Entwicklung von Antiadiposita ist jedoch eine Geschichte der Misserfolge. Alle Versuche, appetitzügelnde Arzneistoffe auf den Markt zu bringen, sind krachend gescheitert, etwa Rimonabant, das im Gehirn in das Cannabinoid-Rezeptor-System eingreift.
Inzwischen sind einige Diabetes-Präparate für Adipositas zugelassen bzw. in Studien. Durch welche Wirkmechanismen eignen sie sich?
SCHUBERT-ZSILAVECZ: GLP-1-Analoga imitieren das körpereigene Glucagon-like Peptide 1. Zwei zentrale Mechanismen spielen bei Diabetes und Adipositas eine Rolle. Zum einen wird die Insulinsekretion verstärkt, zum andern verstärken die GLP-1-Analoga, auch als Inkretinmimetika bezeichnet, das Sättigungsgefühl.
Ist GLP-1 tatsächlich so bedeutend?
SCHUBERT-ZSILAVECZ: Ja, ohne Wenn und Aber! Wird Glukose über die Nahrung aufgenommen, bilden sich im Darm Inkretinhormone, u. a. das GLP-1. Mit dem Anstieg der Blutglukosekonzentration kommt es in der Bauchspeicheldrüse zu einer verstärkten Sekretion von Insulin und gleichzeitig wird über ZNS-Mechanismen der Hunger gedämpft – faszinierende Effekte! Man hat schrittweise stabile, langlebige GLP-1-Analoga zur Behandlung von Typ-2-Diabetes entwickelt, denn die körpereigene Substanz, die auch im Zentralnervensystem wirkt und ein Sättigungsgefühl erzeugt, ist zu kurzlebig und somit als Arzneistoff ungeeignet. GLP-1 wird durch ein Enzym mit dem furchtbaren Namen Dipeptidylpeptidase 4 (DPP 4) innerhalb von Minuten abgebaut.
Welches war das erste Präparat?
SCHUBERT-ZSILAVECZ: Das erste GLP-1-Analogon war der Wirkstoff Exenatid (Byetta®), der gar nicht so erfolgreich war. Bei den nachfolgenden GLP-1-Analoga wurde schnell klar, dass Menschen mit Typ-2-Diabetes unter einer Therapie mit Inkretinmimetika signifikant abnehmen und so die Insulinsensitivität wieder hergestellt wird. Dann haben schlaue Leute überlegt: Dieses Wirkprinzip könnte auch helfen, das Körpergewicht bei Menschen mit Adipositas zu senken, unabhängig davon, ob sie an Typ-2-Diabetes leiden oder nicht.
Wie gut funktioniert das?
SCHUBERT-ZSILAVECZ: Gewichts- und Körperfettreduktion sind teilweise gewaltig! Die neuen Produkte werden noch wirksamer sein. Das Wissenschaftsmagazin „Science“ hat die neuen Adipositas-Arzneimittel 2023 als Durchbruch des Jahres bezeichnet. Kein Wunder, sie sind perfekt designt! Sie sind noch immer Imitate des körpereigenen GLP-1, aber mit besseren pharmakokinetischen Eigenschaften, werden subkutan appliziert und sind anwendungsfreundlich: Semaglutid muss nicht jeden Tag, sondern in einem Abstand von Wochen verabreicht werden. Es handelt sich um eine Dauertherapie – werden die Medikamente abgesetzt, steigt das Gewicht wieder bis zum Ausgangsgewicht. Das ist so, muss den Arzneien aber nicht vorgeworfen werden. Wenn jemand sein Bluthochdruck-Medikament absetzt, steigt der Blutdruck auch wieder. Da sagt keiner, das ist ein schlechtes Medikament.
All das hat die Nachfrage nach Diabetesmedikamenten stark erhöht. Wie ist die Lage heute?
SCHUBERT-ZSILAVECZ: Extrem angespannt. Der Bedarf ist weltweit groß, sowohl im Diabetes- als auch im Adipositas-Markt. Für die Behandlung von Adipositas übernimmt die Krankenkasse die Kosten oft nicht. Zudem ist das Risiko eines nicht indikationsgemäßen Einsatzes riesig – umso wichtiger ist die Apotheke als Ort der sachlichen Aufklärung. Sie kann hier so viel leisten, diese Arzneimittel sind in höchstem Maße erklärungsbedürftig. Jene, die es als Lifestyle-Medikament einsetzen, nehmen es denen weg, die es tatsächlich brauchen. Es ist nicht dazu da, um vor dem Urlaub in Caorle auf Kleidergröße 38 zu kommen, sondern für Menschen mit starker Adipositas (BMI > 30) oder mit etwas weniger ausgeprägter Adipositas, die aber durch zusätzliche Risikofaktoren belastet sind.
Sind die neuen Medikamente Gamechanger – hin zu mehr Lebensqualität und niedrigeren Kosten fürs Gesundheitssystem?
SCHUBERT-ZSILAVECZ: Absolut! Mittel- und langfristig wird der Einsatz erheblich Kosten sparen. Und ich sage voraus, dass die Klassifikation als Diabetes- und Adipositas-Medikamente nicht halten wird. Denn es zeichnet sich schon heute ab, dass GLP-1-Analoga positiv auf Herz-Kreislauf-, Nieren- und möglicherweise Demenz-Parameter wirken. Da sind noch viele Fragezeichen, aber die organschützenden Eigenschaften stellt niemand mehr in Frage. Und bariatrische Operationen wird es zukünftig nur mehr geben, wenn eine GLP-1-Therapie nicht hilft.
Wäre der Einsatz auch bei Kindern gerechtfertigt?
SCHUBERT-ZSILAVECZ: Bei schweren Formen von Adipositas: Ja! Wir dürfen nicht vergessen, was das für Kinder und Jugendliche bedeutet, viele leiden auch an Diabetes. Allerdings brauchen wir klinische Studien, die Nutzen und Unbedenklichkeit klar nachweisen. Und Kinder müssen gesund essen lernen – das ist auch Aufgabe der Kindergärten und Schulen. Ich komme auf mein Klassenbild zurück: Wir sind zu Fuß in die Schule gegangen, mit einem Apfel und einem Stück Brot. Das ist heute oft anders. Wenn wir die Kosten im Gesundheitssystem senken wollen, führt an Prävention kein Weg vorbei. Apothekerinnen und Apotheker können ihre Kompetenz in Vereinen oder bei Schulveranstaltungen einbringen und Ratschläge geben.


Prof. Dr. rer. nat. Manfred Schubert-Zsilavecz ist Pharmazeut und Wissenschaftler im Bereich der pharmazeutischen Chemie. Er ist ordentlicher Professor an der Goethe-Universität Frankfurt und wissenschaftlicher Leiter des Zentrallaboratoriums Deutscher Apotheker (ZL). Er ist auch Schirmherr des Pharmazieforums, das Ende Jänner 2025 im Schloss Pichlarn (Steiermark) über die Bühne ging. Dieses hochkarätige Fortbildungsevent für Pharmazeut*innen veranstaltet die Herba gemeinsam mit der Frankfurter Goethe-Universität.